Xi bleibt hart
Kung Fu bedeutet übersetzt in etwa „hart erarbeitete Fertigkeit“. Und genau das möchte die chinesische Staatsführung zurzeit am Kapitalmarkt vorführen. Zum einen, indem sie demonstriert, dass sie das Heft des Handelns in der Hand hält und bestimmt, welche Entwicklungen sie fördert und für wünschenswert hält und welche nicht. Dabei fällt es Außenstehenden zunehmend schwer die Entscheidungen nachzuvollziehen und erst recht eine Prognose für die Zukunft abzugeben. Die jüngsten Restriktionen im Bereich der Internetmedien sind ein markantes, aber längst nicht das einzige Beispiel hierfür. Nun dienen oder dienten viele Kung Fu-Stile nicht nur der Selbstverteidigung, sondern neben Meditation oder der Steigerung der Fitness vor allem auch der Schaustellerei. Der Eindruck beim Publikum steht dabei im Mittelpunkt. Womit die Brücke zum Fall Evergrande geschlagen wäre. Denn die nahende Insolvenz des zweitgrößten chinesischen Immobilienunternehmens mit einer Kapitalmarktverschuldung von über 300 Milliarden US-Dollar stellt die chinesische Staatsführung vor eine extrem herausfordernde Situation.
Und das Publikum besteht in diesem Fall nicht nur aus Unbeteiligten. Sondern auch aus einer Reihe von Gruppen, deren Interessen die chinesische Regierung ausbalancieren muss. Da sind auf der einen Seite die Kunden des Immobilienkonzerns. Sie protestieren seit einigen Tagen verstärkt vor der Evergrande Zentrale in Shenzhen, da sie um die geleisteten Anzahlungen auf ihre Wohnungen fürchten. Zusätzlicher Druck kommt von Privatpersonen, die via Anlageprodukte ihrer Banken Kredite an den Immobilienentwickler vergeben haben und die nun um die Rückzahlung fürchten. Die chinesischen Großbanken selbst sind mit rund 90 Milliarden Dollar involviert. Ausländische Investoren halten einen bedeutenden Teil der Anleihen von Evergrande.
Deren Preis ist seit Mai von Kursen rund um 100% auf Werte unter 30% abgestürzt. Das gesamte Volumen der börsennotierten Papiere liegt bei rund 90 Milliarden US-Dollar. Das auf den ersten Blick hohe absolute Volumen ist relativ gesehen für alle Beteiligten verkraftbar. Dennoch birgt die Situation natürlich erhebliche Risiken. Denn in den letzten Tagen sind auch die Kurse der anderen Immobilienunternehmen unter Druck geraten. Letztlich ist die Evergrande Schieflage ja nichts anderes als das Symptom einer ausgewachsenen Krise am chinesischen Immobilienmarkt. Dessen Wachstum kühlt sich seit einiger Zeit ab, was aufgrund der überbordenden Spekulation der Vergangenheit zu einer spiralförmigen Abwärtsbewegung führt. In den letzten Tagen werden deswegen immer wieder Befürchtungen laut, China könnte vor einem „Lehman-Moment“ stehen, also einer flächendeckenden Ausbreitung der Krise auf den gesamten Finanz- und Kapitalmarkt.
Paradoxerweise liegt der Vorteil für Xi darin, dass ein Markt nach unseren Maßstäben in China gerade nicht existiert. Denn die chinesische Regierung kontrolliert alle inländischen Beteiligten: die chinesische Notenbank, die wichtigsten Großbanken, die großen Investmentbanken sowie die Bad-Banks, die Restforderungen managen. Und natürlich bestimmt die Staatsführung via Social-Media auch den öffentlichen Diskurs in Bezug auf die Darstellung des Evergrande Falls. Hier kann Xi Jinping auf sein seit 2017 verkündetes Statement verweisen: Immobilien sind zum Wohnen da, nicht zur Spekulation. Dass die Linie zwischen beidem sehr dünn ist, wird er wissen. Seit 1996 ist die Quote der Immobilienbesitzer in China von knapp 50% auf rund 85% gestiegen. Die gesamte Immobilienwirtschaft macht aktuell rund ein Viertel der chinesischen Wirtschaft aus und Schätzungen gehen davon aus, dass rund 70% des Vermögens der chinesischen Haushalte in Immobilien investiert sind. Jahrelang wurde diese Entwicklung vom Staat mit günstigen Krediten gefördert und von der Urbanisierung und dem Mangel an Anlagealternativen begünstigt. Der soziale Frieden steht für die chinesische Regierung ganz oben auf der Prioritätenliste, da er überlebensnotwendig ist. Insofern ist es äußerst unwahrscheinlich, dass die Regierung eine unkontrollierte Insolvenz zulässt.
Andererseits will Xi offensichtlich eine geordnete Rückführung der aus dem Ruder gelaufenen Kreditspirale. Ein staatliches Eingreifen zur Rettung der ausländischen Investoren via Rekapitalisierung der strauchelnden Immobilienkonzerne ist deswegen unwahrscheinlich. Dagegen würde es nicht überraschen, wenn die Unternehmen mit flexiblen Maßnahmen unterstützt werden, um eine geordnete Abwicklung zu ermöglichen. All dies ändert nichts daran, dass große Teile der ausländischen Investoren den Preis für die spekulativen Exzesse der letzten Jahre bezahlen werden müssen. Und es ist schwer abzuschätzen, was dies für die Investitionsfreudigkeit der weltweiten Investoren in Richtung China bedeutet. Bislang konnte sich China aufgrund seines dynamischen Wachstumskurses – zumal im Umfeld von Niedrigzinsen – auf ein hohes Interesse an ausländischen Investitionen im riesigen chinesischen Markt verlassen. Sollten die Investoren anhand des Evergrande Falles nun jedoch befürchten, dass sich die Spielregeln fundamental ändern, könnte dies in der Tat schwerwiegende Folgen für alle Beteiligten nach sich ziehen. Denn für den sozialen Frieden in China waren und sind hohe Wachstumsraten stets eine Bedingung. Aktuell senden die Kapitalmärkte erste Anzeichen von Stress aus. Die Zinssätze für chinesische Hochrisiko-Anleihen kletterten auf den höchsten Stand seit 18 Monaten und die Aktienmärkte gaben deutlich nach. Die chinesische Regierung wird alle hart erarbeiteten Fähigkeiten einsetzen müssen, um aus dieser Nummer ohne Blessuren herauszukommen.